· 

Traue keinem Artikel, den du nicht selber geschrieben hast.

Es begab sich am 24.04.2018, dass in der Facebook-Gruppe "Wenn du in Dinslaken aufgewachsen bist, dann ..." ein Link zu einem Zeitungsartikel geteilt wurde, um diesen zur Diskussion zu stellen. Die Rheinische Post titelte "Schlussverkauf in Dinslaken".

Statt "Dinslaken" könnte man nun auch Sterkrade, Gladbeck, Datteln oder irgendeine andere Kleinstadt oder größeren Stadtteil einsetzen, der mit der Einzelhandelssituation zu kämpfen hat. Die Peergroup ist groß, die Unterschiede (Nähe zu Ballungsraum, Kaufkraft etc.) sind gering. Der Artikel erhebt zwar keinen Allgemeingültigkeitsanspruch (weder meiner noch der der RP), aber man kann durchaus erkennen, dass ein Vergleich mit anderen Städten gewollt ist.

 

Warum ist das nun einen Blogartikel wert?

Ja, ich könnte auch mal wieder was über das Thema Ficken schreiben oder meine Idee zum Pfandsystem bei Rezensionsexemplaren näher ausarbeiten. Aber ich wohne in dieser Stadt. Ich lebe in dieser Stadt. Ich schreibe in dieser Stadt. Und mir ist die Macht von Worten durchaus bewusst. Man kann Dinge kaputtreden, totschreiben. Genau das ist der Anlass, warum ich die Diskussion und meinen Erlebnisbericht vom Folgetag hier noch einmal zusammenfasse. 

Meine ersten Gedanken zum Artikel der Rheinischen Post:

(Den Artikel sollte man zum besseren Verständnis unbedingt gelesen haben. Da ich hier keine Urheberrechtsverletzung begehen werde, bitte einfach dem Link folgen. Danke.)

 

Meine Reaktion in der Gruppe war zunächst:

 

Spricht die Nutzung des Kinderkinos eigentlich für eine gute Kita-Situation und vernünftige Eltern in Dinslaken?

Mal unter uns: An einem Vormittag so eine Beobachtung zu machen (wenig Besucher) ist doch kein Kunststück. Traue keiner Statistik, die du
nicht selber gefälscht hast. An einem Freitagnachmittag oder Samstag wäre das aussagekräftig. Dass eine Speckgürtel-Mall nicht die Magnetwirkung eines CentrO hat, ist doch logisch. Das wäre doch völlig an der Zielgruppe vorbei. Und allein die Nähe dazu macht noch keinen Attraktivitätsverlust aus. Die Sache mit der Vielfalt, den Nischen und der Kaufkraft ist da wohl entscheidender.

Und wie immer schön zu lesen: Eine reine Beobachtung mit mittelprächtiger Analyse.
Was mich daran stört:
Einen Tipp für einen Ausweg hab ich nicht gefunden. Und auch keinen Verweis auf Aktionen wie „Heimat shoppen“ (was zugegebenermaßen weniger die Galerie betrifft). Statt nur zu beobachten, könnte man ja mal progressiv rangehen. Aber damit würde man sich ja aufs politische Parkett schwingen. Ist so rutschig dort ... verstehe.

Wann genau war eigentlich diese Abstimmung? Ich kann mich nämlich nicht daran erinnern. (Wohne aber auch erst seit 2009 wieder in Dinslaken.)

Dabei wollte ich mich in politische Dinge doch niemals öffentlich einmischen.

Es tat aber ganz gut, sich mal Luft zu den Gedanken zu machen, die einen umtreiben, wenn man sich während des Lesens schon bewusst wird, dass da was nicht ganz stimmen kann. Und wie auf Bestellung erhielt ich einen Link zum Bürgerentscheid. Tadaaa. Der hatte 2007 gar nicht stattgefunden, sondern war wegen eines Formfehlers in der Vorlage nicht zugelassen worden. 

Öhm. Schlechte Recherche? (Würde man mir zumindest sofort unterstellen und da, obwohl ich fiktive Literatur veröffentliche.)

 

Mir drängte sich nach und nach auf, dass der Artikel bewusst Meinungsmache zu Ziel hatte. Nüchtern und sachlich formuliert klingt anders, allein die narrative Einleitung und die immer wieder eingeschobenen Eindrücke lassen beim Leser Emotionen aufkommen.

 

Und die deckten sich irgendwie nur marginal mit denen, die ich beim letzten Besuch der Neutor Galerie gehabt hatte. (Was ungefähr zwei Wochen her gewesen ist, ich habe nachweislich Schuhe gekauft. Siehe Bild, per Klick vergrößerbar.)

Wer schrei(b)t hat recht?

Mir lag schwer im Magen, dass der im Artikel vorherrschende Eindruck so ausnahmslos negativ war. Daher schlug ich vor, mir das Ganze mal anzusehen und mich von den Mitgliedern der FB-Gruppe via Postings begleiten zu lassen. 

Den Plan setzte ich am Folgetag in die Tat um und begann um kurz vor halb zwölf todesmutig mit dem Selbstexperiment. Die nachfolgenden Zeilen sind aus dem Facebook-Post und meinen Kommentaren herauskopiert.

11: 29 Uhr

Später als gedacht betrete ich die Neutor Galerie (die ich eigentlich gern mit Bindestrich schreiben würde), da ich keinen Parkplatz draußen bekommen habe. Drei Runden um den Block. (Ins Parkhaus fahre ich einfach nicht gern.)
Ich schiebe mich durch die Massen an Schülern, die offenbar hier ihre Pause verbringen, allesamt aber freundlich und friedlich sind. Und man glaubt es kaum: Das WLAN funktioniert!

[Zur Erklärung: Das WLAN wurde mehrfach bemängelt, auch von mir, daher der Hinweis.]

11:35 Uhr

Auf der Suche nach Kaffee zum Mitnehmen im selbst mitgebrachten Thermobecher komme ich am Kinderkino vorbei. Es ist verwaist. Aber es läuft PETS! Yeah. Ich darf dummerweise nur nicht rein ... Gucke ich dann heute Abend zu Hause. Ob es den bei expert gibt?

11:42 Uhr

In der Bäckerei Karl war man so nett, mir für günstige 1,80 € einen großen Kaffee in meinen Becher zu füllen. Bei Juicy Lucy war die Maschine kaputt. Da hätte er aber auch 2,20 € gekostet.
Ich pflanze mich in die rote Sitzgruppe an der Info, drei weitere Menschen sind schon da und verweilen. Im Sekundentakt laufen Passanten an mir vorbei, mit und ohne Einkaufstüten.
Die Musik im Hintergrund nervt ein bisschen, zu blechern.
Außer beim Optiker sind in jedem von hier aus einsehbaren Geschäft Kunden zu sehen ...

11:51 Uhr

Person Nummer vier setzt sich. Eine Mutter und ein Kind kommen ebenfalls dazu. Man tauscht sich über Bierpreise aus.

11:55 Uhr

Alle starren auf meinen Rucksack. Ich habe noch nicht einen Satz für meinen Leserbrief geschrieben. Wir sitzen hier zu sechst. Man(n) liest Bild.

12:00 Uhr

Mittag! Die Besetzung der Couch hat gewechselt, wir sind zu fünft. Der Mann, der Sky verkauft, konkurriert mit dem Lärm aus den Boxen. Seitdem die Schüler weg sind, sind ca. 60 Menschen an mir vorbei gelaufen. Die Fluktuation in den Läden wirkt normal, Verweildauer derer, die ich wiedererkenne, beträgt ca. 12 Minuten.

12:05 Uhr

Mir ist warm, die Herren neben mir jedoch machen ihre Winterjacken zu. Ist das meine frostige Ausstrahlung?

12:07 Uhr

Ich sehe mich um. KULT sucht mich. Au weia, was hab ich denen getan?
Vielleicht wird es Zeit, den Platz zu wechseln, irgendwo muss ich ja mal Ruhe finden, hier sind mir zu viele Menschen. Und die Beleuchtung ist gerade zu pink geswitcht - zu Ehren meines Rucksacks? Wir werden sehen ...

 

[Nachtrag: Sie haben mich nicht gefunden!]

12:14 Uhr

Ich habe leider kein Foto für euch. Ich bin umgezogen. Vor H(asi)&M(ausi) war kein Platz frei, dort warteten mehrere Herren. Vermutlich auf Damen. Im Geschäft.

Sitze nun vor Böckels Beste. (Meinen die mich? Wer ist Böckel? Hieß so nicht d
er Oberst in Sissi?)

Ein Mittfünfziger versendet lautstark Sprachnachrichten. Ein Ehepaar um die sechzig guckt auf einen Smartphone-Bildschirm. Irgendwo schreit ein Kind und mein Kaffee geht zur Neige. Auch hier ist das blecherne Geplärre allgegenwärtig. Mein Tinnitus vermeldet, dass das so nicht weitergehen kann. (Nicht wegen des Kindes. Das kann nix dafür. Offenbar hat es nun einen Keks. Es schweigt.)

Menschen mit Einkaufstüten passieren meinen Platz. Bei HairExpress sitzen zwei Kunden, allerdings langweilen sich zwei Verkäuferinnen bei Jumex. Reges Kommen und Gehen auf dem Parkhausgang.

12:21 Uhr

Mister Sprachnachricht legt auf. Im Kiddieland fährt der Zug ab. Bei Nanu Nana wird aufgeräumt. Offenbar eine gute Entscheidung, es betreten Kunden den Laden. Ebenso bei Jumex.
Seid ehrlich, ihr Lieben, die habt ihr mir doch alle extra vorbeigeschickt, oder?

12:25 Uhr

Ich überlege, den Massagesessel gleich mal auszuprobieren. Der Kaffee ist leer, den kann ich da nicht verschütten. Aktuell ist nur einer der Sitze dort belegt. Ich warte mal auf Bettina.
Die Leuchtanzeige präsentiert mir Werbung für den Adi
positas-Tag. Scheiße. Eigentlich wollte ich gleich ein Eis essen ...
Das Smartphone-Paar geht. Dafür kommt ein älterer Herr mit Gehbehinderung und vollen Einkaufstüten zur Erholung in die Sitzgruppe. Ich lächle mal nett.
Ein junger Mann in Lederjacke beobachtet mich. Ist der etwa Undercover? Wo ist meine Sonnenbrille? Oder findet der einfach nur meinen Rucksack spannend?

12:31 Uhr

Ich bin jetzt eine Stunde hier. Das einzige, was hier gähnt, bin ich. Der Kaffee ist nämlich leer. Im Gegensatz zu den Wegen und Geschäften ...
Bettina ist da! Ich bin dann mal wech! Vorläufig.

Pause bei La Luna.

Die Pause beginnt mit einer Schrecksekunde. Mein Handy ist weg. Weg-weg. Bettina passt auf meine anderen Sachen auf, ich flitze zurück zur Polstergarnitur, wo wir uns getroffen haben. Suche hastig. Es liegt nicht mehr dort. Ich frage bei Böckels, bei Juicy Lucy. Niemand hat etwas gesehen. Auch die gut zehn Menschen, die dort anstehen bzw. an den ersten drei Tischen sitzen, haben nichts mitbekommen.

Auf zur Information. Ob es jemand gefunden hat? Mein Herz pocht wie wild, ich überschlage mich beinahe auf der Rolltreppe und bin froh, ausnahmsweise Chucks anzuhaben, während ich in öffentlicher Mission unterwegs bin.

 

Der Security-Mitarbeiter erkennt schon an meinem aufgeregten Gesicht und der Panik in der Stimme, dass es um was Wichtiges geht und sieht mich beruhigend an, redet freundlich. Greift auf meine Frage, ob kürzlich ein schwarze iPhone abgegeben wurde, zu einer Schublade. Legt mein Arbeits-, Kommunikations-, Fotoknips- und Überhaupt-Einfach-Alles-Gerät in meine Hand und lässt sich demonstrieren, dass ich es mit meinem Fingerabdruck entsperren kann. Er verweist mich an einen der älteren Herren in der Sitzgruppe. Dieser habe das Handy gefunden und gerade abgegeben.

 

Außer meinem Dank und vieler gestammelter Worte möchte der ehrliche Finder keine Belohnung. 

 

Fassen kann ich das alles erst Stunden später. Das weiß ich da aber noch nicht. [Übrigens: Meine Daten sind gesichert und ich kann das iPhone orten. Dennoch ist so ein Verlust erstmal alles andere als spaßig. Und ja, ich habe etwas daraus gelernt.]

 

Bei Mango-Eis und Kaffee plaudern Bettina und ich nach diesem Schrecken über die Lage des Einzelhandels in Dinslaken. Ihr Mann betreibt das Shirthaus100 und sie kennt diverse Ladenbesitzer in der Stadt. Ihr ist die Lage also nicht fremd, aber auch sie wirkt gelassener als man es nach so einem Artikel vermuten würde. 

Wir sehen uns um und entdecken an den anderen Tischen ungefähr acht bis zehn weitere Gäste. Da ist definitiv Luft nach oben. Aber es ist auch nicht mehr wirklich Zeit fürs Frühstück und noch nicht unbedingt für den Nachmittags-Kaffee. 

Wir spekulieren über die Mietpreise, fragen uns, wie das Nagel-Studio sich rechnet und wie sich drei Frisöre mit sehr ähnlichen Konzepten und Preisen dort halten können. Es sind Filialen großer Ketten, wahrscheinlich deswegen. Wir haben beide andere Favoriten, die wir an unser Haupt lassen.

 

Wir plaudern über die bevorstehende Eisstock-Challenge, gucken weiter durch die Gegend und uns fällt auf, dass die Menschen um uns herum weder unzufrieden noch getrieben wirken. Auch wir lassen uns Zeit und fühlen uns wohl, entspannte anderthalb Stunden beobachten wir das Treiben und kommen zu dem Schluss, dass es mehr Besucher und Kunden waren als wir gedacht haben.

 

Zum Abschluss der Pause schlendern wir noch durch Xenos, die nun zu Tedi gehören, und kaufen Zeugs. Postkarten, Malbücher, Süßkram. Wir geben keine Unsummen aus, aber da es sich nicht um Dinge des täglichen Bedarfs handelt, sind wir darüber auch ganz froh.

Ob mir der Laden gefehlt hätte? Er ist nicht lebenswichtig, aber die Dinge, die ich erworben habe, hätte ich sonst in mehreren Läden zusammensuchen oder online bestellen müssen. Wer will das schon?

14:10 Uhr

Frau Schwarz verlässt die NG. Ca. 30 Euro ausgegeben, einen zauberhaften Plausch mit Bettina gehabt und ganz sicher: I’ll be back!

Ihr könnt den vielen Menschen, die ihr mir gesandt habt, jetzt sagen, dass sie nach Hause dürfen.

Mir fehlt in der NG übrigens eines (inhabergeführte) Buchhandlung 😬
Und vielleicht ein Sportfachgeschäft. Aber das sind Kleinigkeiten.

Mein großer Dank und meine tiefe Verbundenheit - und das ohne jegliche Ironie - gelten dem älteren Herrn, der mein Handy gefunden und an der Info abgegeben hat. Ich habe es im Erlebnisrausch liegen lassen und erst drei Minuten später bemerkt. Danke, für so viel Ehrlichkeit und Achtsamkeit.
(Wer die Story jetzt nicht glaubt: Es gibt genügend Zeugen.)

Überraschung am Nachmittag

Als ich nach Hause komme, trauere ich für einen Moment der Tatsache hinterher, dass ich den Leserbrief, den ich der Rheinischen Post hatte schreiben wollen, nicht zu Papier gebracht habe. Als ich Facebook öffne, um mich bei den Lesern und Kommentatoren meines Post zu bedanken, sehe ich , dass "Dinslaken erleben" auf den Artikel reagiert und eine Antwort auf den Abgesang der RP verfasst hat. Damit haben sie einen Großteil meiner Gedanken verbalisiert und ich hoffe, dass diese Antwort von mehr Menschen gelesen wird als der eigentliche Artikel.

Fazit

Mein Besuch war eine Momentaufnahme. Das war die Schilderung in der RP auch.
Wer hat jetzt recht?

 

So gehet denn hin, in Frieden, und machet euch selbst ein Bild.

 

Und by the way: Ich finde es ganz großartig, völlig ironiefrei, wie die Stadt zu ihren Leerständen steht. Kunst statt Leerraum Dinslaken sorgt vielleicht nicht für Neuvermietungen, aber es bringt die Innenstadt ins Bewusstsein der Bürger.
Ich freue mich schon sehr darauf, Teil dieser Gemeinschaft zu sein und das Gästebuch zu betreuen. Auch in der Hoffnung, dass wir noch mehr Dinge zusammentragen, die an unserer Stadt liebenswert sind. 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0