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European Meeting of Participatory Democracy – Ich war dabei … und ihr auch. Irgendwie.

Zwei Tage zum Thema partizipative Demokratie/Bürgerbeteiligung. Anders als geplant.  

 

Wer diesen Blog schon etwas länger und regelmäßig verfolgt, wird mitbekommen haben, dass ich in den letzten zwei Jahren beim URBACT-Projekt Active Citizens mitgewirkt habe, um zusammen mit unserer Arbeitsgruppe ein Bürgerbeteiligungsprogramm für Dinslaken zu entwickeln. Wir biegen damit gerade auf die Zielgerade ein und werden bald dem Rat der Stadt unsere Ergebnisse vorlegen, damit dieser dann unseren Integrierten Aktionsplan (Handlungsempfehlung) verabschiedet.

 

Auf dem Weg zu diesem Integrierten Aktionsplan (IAP) haben wir jede Menge Erfahrungen gesammelt, Beteiligungsformate ausprobiert und über das Für und Wider von Bürgerbeteiligung diskutiert. Eigentlich wäre unser internationaler Austausch bereits Anfang Juni in Agen bzw. beim URBACT-Fest in Paris beendet gewesen. Wenn, ja, wenn da nicht eine Anfrage aus dem Europäischen Parlament gewesen wäre, ob wir nicht unsere Erfahrungen mit dem CNV (Conseil National des Villes) teilen wollten. Der CNV ist  so etwas wie der französische nationale Rat der Städte, ein autonomes Reflexionsgremium, das für die Beratung und Anleitung der Regierung in Fragen der Stadtpolitik und des Kampfes gegen Diskriminierung verantwortlich ist. Es steht unter dem Vorsitz des französischen Premierministers. Der CNV tagte in 2022 das erste Mal seit Ausbruch der Pandemie, auf Einladung des EU-Parlaments unter dessen Dach in Straßburg.

 

 

Kurzer Exkurs: Es gibt zwei Dienststellen des Europäischen Parlaments, der offizielle Sitz ist seit jeher in Straßburg. Seit Beginn der 1990er gilt mehr oder minder die aktuelle Regelung,  dass die Ausschüsse und Fraktionen in Brüssel tagen und die Plenarsitzungen in Straßburg stattfinden. Der Bunker steht also zeitweise leer, der Plenarsaal, auch Hemicycle genannt, ist dann ungenutzt. 

Es gab Ende 2021 zunächst ein paar Verhandlungen wegen der Kostenübernahme, dann wurde das Datum für den Kongress immer wieder verschoben. Im März allerdings stand dann fest, dass aus jeder unserer Projektstädte bis zu vier Personen, davon zwei gewählte politische Vertreter*innen und zwei Arbeitsgruppen-Mitglieder, teilnehmen könnten. Während der transnationalen Meetings in Dinslaken und Hradec Králové ergab es sich, dass unser Lead Expert mich ansprach und fragte, ob ich zu insgesamt zwei Themen einen Beitrag leisten könnte.

 

Als wir vor zwei Jahren anhand von „Problembäumen“ skizzierten, wo wir noch den größten Nachholbedarf haben, hatte ich das Thema „Diversifikation“ in einer Kleingruppe zu bearbeiten. Wie schaffen wir es, dass Bürgerbeteiligung nicht nur „die üblichen Verdächtigen“ anlockt, sondern ein möglichst repräsentatives Abbild unserer Stadtgesellschaft ergibt? Wer fehlt eigentlich IMMER, wenn es um Beteiligung geht? Und vor allem: Warum? Was muss Bürgerbeteiligung leisten, um attraktiv für alle – oder zumindest eine breite Masse – zu werden?

 

Im Laufe der Zeit kristallisierten sich Antworten heraus; mir war und ist es nach wie vor wichtig, dass wir damit arbeiten. Also nicht auf lange Sicht wieder vergessen, dass wir eine möglichst heterogene Gruppe an Bürger*innen zur Beteiligung bekommen wollen, um eine möglichst hohe Akzeptanz in der Breite der Bürgerschaft zu erzielen. Und hier kommt ihr ins Spiel, liebe Leser*innen. Die Umfrage, die ich vor einer Weile gemacht habe, zielte ja auf die „Abwesenden von Partizipation“ ab, die „Absentees of participation“, wie die Session im EP dann schließlich auch hieß.

 

In der Umfrage wurde deutlich, dass insbesondere Frauen und genderqueere Menschen Schwierigkeiten haben, sich in Bürgerbeteiligung einzubringen. Aber auch Jugendliche, junge Erwachsene und Menschen mit Behinderung gaben an, mehr Hürden nehmen zu müssen, als „der weiße alte Mann“. Ein paar Beispiele aus der Umfrage konnte ich anbringen und auch die Gruppe der pflegenden Angehörigen konnte ich explizit nennen. Eifriges Nicken im Publikum, bevor aber Fragen gestellt werden konnten oder ich die Möglichkeit hatte, das zu Ende zu führen, gab die Moderatorin das Wort weiter. Irritation bei den Redner*innen, Getuschel im Saal. Hmtjanun. Vielleicht klang ich zu feministisch …

 

Zu meiner Überraschung [und der des Auditoriums] stellte ein französischer Kollege die Situation in seinem Nachbarschaftsrat ganz anders dar. Während der Pandemie seien ihm quasi alle männlichen Mitglieder abhandengekommen, er würde nur noch mit Frauen Ü40 arbeiten. Repräsentativ schien sein Beispiel allerdings nicht zu sein, da es heftigen Widerspruch der anderen Sprecher und des Publikums gab, als er das verallgemeinern wollte. [Yeah, feminism rules!]

 

Martin Maštálka, Active Citizen und ass. Professor für Architektur und Stadtplanung in Pardubice, brachte daraufhin ein Beispiel aus der Stadtplanung in Hradec Králové ein. „Die Stadt[verwaltung] überlegt, plant, setzt um. Meistens im Alleingang, zusammen mit Planungsbüros und ausführenden Unternehmen. Aber wer selten oder eigentlich nie gefragt wird, ist der Bürger. Und damit meine ich alle Bürger.“ Er berichtete dann, dass man per Zufallsgenerator Bürger*innen eingeladen habe, sich an der Planung zur Neugestaltung des großen Platzes in der Altstadt zu beteiligen. Auf diese Weise erhielt man wertvolle Ideen, Vorschläge und Einwände, „auf die wir nie gekommen wären.“ Zwar machte das die Planung nicht einfacher, aber demokratischer. Wo zuvor also alle Bürger*innen abwesend gewesen waren, war eine heterogene, repräsentative Gruppe zusammengekommen.

 

Die Moderatorin fasste diese Eindrücke dann elegant zusammen, dass wohl jeder mal irgendwo abwesend sei und es offenbar auch davon abhängig sei, um was es eigentlich geht. Befriedigend schien das aber für unser Auditorium nicht zu sein.

„Welche Lösung haben Sie für das Problem der Abwesenden, die wir nicht kennen und die so uneinheitlich sind? Wie erreichen wir pflegende Eltern? Arme?“, fragte mich dann eine junge stellvertretende Bürgermeisterin, die sich von der Moderatorin nicht abwimmeln lassen wollte. „Wie sollen wir an diese Menschen rankommen, deren Belange erkennen?“

 

 

Hmtjanun. Es gibt für keine Stadt und kein Beteiligungsprojekt eine Musterlösung. Aber ein Anfang sind bspw. Vereine und Selbsthilfegruppen, NGOs und – Social Media. Wer, ganz oldschool, bei Twitter oder Facebook, auf Instagram und TikTok bspw. nach den Hashtags #Armut, #arm, #pflegendeEltern, #pflegendeAngehörige sucht, wird fündig. Es gibt eine Vielzahl von Menschen, die ihr Leben online teilt, einen Einblick gibt. Oft auch mit Standortangabe, nach der man filtern kann. Man muss dann natürlich aktiv auf diese Menschen zugehen, aber man kann sie dort identifizieren. Ebenso Menschen mit Behinderung, PoC, LGBTQIA+, Jugendliche. Es ist Arbeit. Es ist noch mehr Arbeit, Vertrauen aufzubauen, die Beziehung zu diesen Menschen zu pflegen und ihnen die Beteiligung zu ermöglichen. Aber Teilhabe ist [zumindest in der EU] verbrieftes Menschenrecht. Partizipative Demokratie so zu gestalten, dass die Menschen sich gar nicht erst beteiligen wollen und können, führt sie ad absurdum. 

 

Eigentlich ganz passend dazu lautete mein zweites Thema: „Die Macht zu handeln: jeder ist berechtigt“ (im Original: The power to act: „all legitimate!“). Klingt ein bisschen schräg, gebe ich zu, heißt aber nichts anderes, als dass jedem Menschen die Möglichkeit zur Meinungsäußerung gegeben werden muss. Dass sich niemand ausgestoßen fühlen soll, alle das gleiche Recht haben, zu sprechen.

In der Umsetzung ist das natürlich schwierig und führt zu einem hohen Ressourcenverbrauch. In Straßburg haben wir darüber gesprochen, welche Möglichkeiten man hat, da einen goldenen Weg zu finden und auch, was passiert, wenn man es nicht tut.

In dieser Session erlebten wir hautnah, ohne dass es gewollt oder geplant war, was geschieht, wenn sich Bürger*innen von Partizipation ausgeschlossen fühlen. Die Teilnehmer*innen im Publikum hatten seit zwei Jahren wenig bis keine Gelegenheit gehabt, sich auszutauschen über ihre Projekte, Probleme und Ideen. Die Redner*innen sahen sie daher eher als Anlaufstelle, ihren aufgestauten Frust und ihre Sorgen loszuwerden. In den letzten zwei Jahren hatten sich in allen Projekten zur Teilhabe die Budgets arg verringert oder waren ganz gestrichen worden. „Woher nehmen, wenn nicht stehlen?“, war die Kernfrage, auf die wir leider keine Antwort geben konnten [, weil es nicht unsere Aufgabe und unser Thema war].

Mehr als [ehrliches] Verständnis zu zeigen und uns die einzelnen Schilderungen anzuhören, blieb uns kaum übrig, da auch die Moderatorin nicht so recht wusste, wie sie das Ruder noch einmal herumreißen sollte.

Ein junger Lehrer aus der Nähe von Lyon erzählte, dass er seit einem Jahr fast die Hälfte seines Gehaltes darin investierte, Projekte für Schüler*innen zu Demokratie, urbaner Entwicklung und Arbeitslosigkeit fortzuführen, weil sie vielversprechend seien, es aber von keiner Stelle mehr Gelder dafür gibt.

 

Dieses Los trifft auch viele Vereine und Einrichtungen in Deutschland, wer sich nicht rechtzeitig um die entsprechende Finanzierung bzw. das Budget kümmert, steht mit leeren Kassen da. So wie der Lehrer den Fall schilderte und auch die anderen Teilnehmer*innen erklärten, gibt es aber einfach nirgendwo [in Frankreich] mehr Geld für solche Projekte.

Da sitzt man dann vor 40-50 Menschen, denen man erzählen soll, wie wichtig es ist, niemanden zu vergessen und nach Möglichkeit jeden anzuhören und es wird klar: Das wissen die schon lange. Das ist nicht deren Problem. Die haben einfach kein Geld, um das umzusetzen.

 

Eine meiner Mit-Rednerinnen brachte es auf den Punkt: „Das hätten wir uns schenken können.“ Diese  Session hatte vom Austausch leben sollen, vom gegenseitigen Lernen, von guten Erfahrungsberichten. Sie endete leider in Ratlosigkeit auf beiden Seiten.

 

Ich hätte aber schon gewarnt sein können. Denn nach der ersten Session war ein junger Mann zu mir gekommen, ein Sozialarbeiter aus LeMans. Er hatte mich gefragt, wieso ich voraussetzte, dass alle Menschen Internetzugang haben. Da in Deutschland gut 66 Millionen Menschen Internetzugang haben und auch Senior*innen verstärkt online sind, hatte ich mir zur Situation in Frankreich keine Gedanken gemacht. Ich erklärte ihm vorsichtig, dass meine Aufgabe gewesen sei, von unseren Erfahrungen [in Deutschland] zu erzählen und ich offen gestanden keinen blassen Schimmer hatte, wie es in Frankreich aussah.

„Viele Arme haben kein Internet, weder zu Hause, noch mobil. Sie gehen in Internetcafés oder Einrichtungen, müssen aber Termine machen. Und es klappt eben nicht immer.“

 

Uff. Aus dem deutschsprachigen Twitter und Facebook weiß ich, dass es die Hashtags #armutsbetroffen und #ichbinarm so wie viele weitere gibt und dahinter meistens auch Menschen stecken, die tatsächlich in Armut leben. Dass es aber in unserem Nachbarland wegen mangelnder Infrastruktur und zu hoher Kosten dazu führt, dass vielen Menschen auch diese Teilhabe verwehrt bleibt, war mir neu.

 

Nennt mich naiv, gerne.

 

Aber wusstet ihr, dass 15 % der Bevölkerung in Frankreich Analphabeten sind, in La Réunion sogar 30 %?

40 % der Bevölkerung sprechen nicht bzw. nicht ausreichend Französisch, um sich im Alltag zu verständigen. Vierzig!


Ich könnte jetzt was von Demut und Lerneffekt auf meiner Seite schreiben, noch mehr Beispiele nennen und noch mehr Menschen zitieren. Ich könnte meinen Beitrag schön- und wichtigreden, erzählen, wie imposant das EP von außen und innen ist, etwas zu den „Freuden“ mit der Deutschen Bahn zu reisen schreiben oder das wirklich leckere Essen loben. 


Ich könnte versuchen, irgendwie zu rechtfertigen, dass es diesen Kongress gab und dass er für alle Teilnehmenden einen Mehrwert geschaffen hat. Aber ich lüg so ungern und schlecht. Ich mag hier keinen Euphemismus anwenden, weil es der Sache nicht gut täte. 

 

Für die Mitglieder des CNV war es frustrierend, dass wir keine Antworten auf ihre Fragen hatten. Für uns ebenso. Im Vorfeld waren nur wenige Inhalte abgesteckt worden, es gab keine Informationen, auf welchem Wissensstand die Teilnehmer*innen sein würden. Uns wurde es so erklärt, als müssten wir ihnen die Basics vermitteln, für Partizipative Demokratie werben und anregen, sich damit zu beschäftigen.

Stattdessen beruhigten wir erhitzte Gemüter und betrachteten schweren Herzens den Kostenberg dieser Zusammenkunft, mit dem man sicherlich das Schulgartenprojekt des Lehrers und die Anti-Kriminalitäts-Arbeit des Sozialarbeiters hätte finanzieren können. Für die nächsten fünf bis zehn Jahre.

 

 

Nicht, dass wir uns falsch verstehen. Ich ärgere mich nicht, diese Reise unternommen zu haben und irgendwo am Horizont erkenne ich trotz aller Diskrepanz einen Sinn darin. Auch für die Mitglieder des CNV, die zwar vorwiegend mit Budgetproblemen zu kämpfen haben, aber auch Ideen und Konzepte mitgenommen haben. Für die es eine Erfahrung war, zu sehen, wie es laufen kann und dass es nicht hilft, auf Geld zu warten, sondern dass der Druck „von unten“ kommen muss. Es geht ja auch nicht allen Gemeinden in Frankreich schlecht. In einem Pariser Arrondissement ist es beispielsweise so, dass es Nachbarschaftsräte aus der wohlhabenderen Ecke gibt, die Projekte und Aktionen der ärmeren aus eigener Tasche finanzieren. Irgendwo darin verbirgt sich vermutlich der Mehrwert, den dieses Meeting bringen sollte, anders als gedacht. 

 

Laurent Giraud, ein Verantwortlicher des CNV, brachte unseren Auftrag in seiner Rede ganz gut auf den Punkt: „Verbindet Menschen miteinander, baut Brücken, hört zu.“

 

Haben wir gemacht, zwei Tage lang. Und ich hoffe, dass wir dies auch in unserer weiteren Arbeit in Dinslaken machen können und werden.

Francois Jegou, Innovationsdesigner und Forscher, sagte in seiner Präsentation etwas, das einerseits ein Allgemeinplatz ist, aber andererseits das eigentlich Problem auf den Punkt bringt: „Fangt klein an, aber fangt an.“

 

Jap. Machen wir.

 

 

 

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