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Die Lobbylosen – über den Corona-Alltag von Eltern behinderter Kinder

Über sie redet sowieso selten jemand, in der Menge der #CoronaEltern gehen sie unter – Eltern von Kindern mit Behinderungen und Pflegebedarf.

 

Zwei Prozent der insgesamt 7,8 Millionen schwerbehinderten Menschen in Deutschland sind Kinder unter 18 Jahren. 156.000, um es auf eine Zahl zu bringen. Ihre Eltern sind es gewohnt, in ständiger Sorge um die Gesundheit zu leben, kämpfen meist für sich allein – um Hilfsmittel, Etats und Anerkennung. Was sie in Zeiten von Corona erleben, welche Ängste und Hoffnungen sie haben, haben mir daher Elif, Imke und Bianca verraten. 

 

Die Interviews fanden zwischen dem 01.05. und 06.05.2020 statt. Inzwischen gab es in NRW einige Lockerungen, die aber am Status quo für diese Familien nur marginal etwas ändern, Covid-19 ist nach wie vor da.

»Mir sind die Hände gebunden.«

Das Bild zeigt die gesamte Familie im Urlaub
Ein Bild aus entspannteren Tagen. (Foto: privat)

Elif und ihr Mann Ahmet sind seit 2005 verheiratet und haben die drei Kinder Kayral (10), Eliza (6), Ali Kemal (2,5). Sie wohnen in einer 3,5-Zimmer-Wohnung mit 65 qm in einem 4-Parteien-Haus zur Miete, im Erdgeschoss. Ahmet ist seit über zehn Jahren selbständig als Autoaufbereiter, Elif ist bis August noch in Elternzeit, müsste dann eigentlich wieder arbeiten. Die Krankenschwester und Altenpflegerin war zuletzt in einem Seniorenstift beschäftigt, wie es für sie weitergeht steht in den Sternen. Neben der Care-Arbeit übernimmt sie die Büroarbeiten ihres Mannes; Rechnungen schreiben, Buchhaltung, Versicherungen etc.

Im normalen Alltag bekommt sie das alles gut unter einen Hut, ich selbst kenne sie immer nur mit einem Lächeln auf den Lippen und strahlenden Augen. »Kayral gibt mir die Kraft dazu. Meine Kinder, mein Mann, meine Familie.«

 

 

 

 

Kayral. Fünf Stunden nach seiner Geburt begann er zu krampfen. Krampfen nicht im Sinne eines Muskel- oder Fieberkrampfes, sondern als Merkmal einer Neugeborenenepilepsie, die sich zu einer Schwerbehinderung entwickelte. Die Ursache ist unbekannt.

 

Seit sechs Jahren ist er durch eine strenge ketogene Diät anfallsfrei. Zurück bleiben eine spastische Tetraplegie, Infantile Cerebralparese, Reflux, Ösophagitis, Narben einer Hüft-OP. Kayral kommuniziert durch Blicke mit seinem Umfeld, versteht zu 80 % das, was um ihn herum geschieht, gesagt wird. »Er verfolgt uns mit den Augen, kann leider nicht selbständig sitzen und nicht selber essen und trinken, kann sich  nicht umdrehen. Er ist körperlich schwerst beeinträchtigt und komplett auf unsere Hilfe angewiesen.«

 

Wie unterscheidet sich euer Alltag zu der Zeit vor Corona?

 

»Aufgrund der Pandemie können wir Kayrals Therapien nicht wie gewohnt durchführen. Natürlich sind alle drei Kinder zu Hause, dadurch sind mir komplett die Hände gebunden. Ich kann weder einkaufen noch irgendetwas unternehmen, weil ich mit allen drei Kindern zusammen nicht allein raus kann. Mein Mann ist mir keine große Hilfe im Alltag, er geht um kurz nach acht aus dem Haus und kommt zwischen sechs und sieben zurück, ich bin in der Zwischenzeit komplett auf mich allein gestellt. Den Haushalt, alle Behördengänge und Arztbesuche erledige ich. Meine Eltern wohnen zwar um die Ecke, aber die möchte ich wegen der Ansteckungsgefahr momentan nicht involvieren. Es ist überfordernd.

 

Positiv ist, dass ich alle drei Kinder zu Hause erlebe, ich kannte das bisher nicht. Der Tagesablauf ist sonst turbulent; kaum sind die Kinder aus dem Haus, fange ich an zu putzen, kochen, den Bürokram zu erledigen und Organisatorisches zu regeln. Wenn die Kinder wieder da sind, geht es normalerweise zur Therapie und wir sind gegen sieben Uhr zu Hause. Dann wird gegessen, waschen, ab ins Bett. Um neun bin ich dann fix und fertig. Der Tag jetzt ist viel relaxter, wir spielen viel zusammen. Kayral ist auch relaxter, er genießt es sehr, zu Hause zu sein. Jetzt gehe ich erst um acht Uhr abends oder in aller Frühe, bevor mein Mann zur Arbeit geht, einkaufen und bekomme meistens nicht mehr, was ich brauche.«

 

Wie hat sich dein Kind verändert? Gibt es Veränderungen bei den Geschwistern?

 

»Kayral ist nicht ausgelastet, er hat wegen der Therapien sonst immer besser geschlafen, jetzt ist er jeden Abend lange wach, braucht seine Zeit. Wir versuchen zwar, zu Hause viel Therapie mit ihm zu machen, aber es ist nicht so wie es sein sollte. Die Geschwister langweilen sich inzwischen. Die erste Zeit fanden sie das noch toll, sonst ist meine Tochter die erste gewesen, die jedes Mal, wenn ich sie vom Kindergarten abgeholt habe, gefragt hat ‚Mama, welche Therapie hat mein Bruder heute? Wo fahren wir hin? Köln? Mülheim? Zu Victoria?‘ Die Kinder genießen die Zeit zu Hause, aber nach der längeren Zeit ist es für sie anstrengend, besonders für die beiden kleinen.«

 

»Wir sind zu Hause komplett isoliert, haben keine Hilfe, nichts«

 

»Die Decke fällt uns zeitweise auf den Kopf, da wir auch keinen Garten haben. Unsere Nachbarn akzeptieren Kayrals Krankheit nicht, seinen Rollstuhl auch nicht vor der Tür, die Kinder sind ihnen tagsüber zu laut.«

Vor Corona war die Familie quasi nonstop unterwegs, die Wohnung diente als Basislager und abendlicher Rückzugsort. Dem Unverständnis der Nachbarn ausgesetzt zu sein, schmerzt Elif. »Da werden abends um neun noch Stühle gerückt, Fenster und Türen zugeschlagen, getrampelt ...« Unter Kayrals Zimmer befindet sich die Waschküche für alle Parteien des Altbaus. Dass ausgerechnet nachts Wäsche gewaschen und geschleudert wird, strapaziert die Nachtruhe. »Kayral wird davon wach und schreit dann.« 

 

Ahmet steht morgens besonders früh auf, um seine Kinder zu versorgen und ein wenig Zeit mit ihnen zu verbringen. Abends bleibt dazu nur selten Gelegenheit, da alle drei zeitig ins Bett gehen – mehr als ein paar Minuten sind dann nicht mehr drin. »Er versucht sein Bestes, ruft jeden Tag mehrmals an,  was er aber auch schon vor Corona gemacht hat. Sonntags ist Familientag, es wird immer was unternommen, wir bleiben nicht zu Hause, sondern gehen spazieren am Rhein, Rotbachsee, oft auf den Spielplatz, was aber aktuell nicht geht. Ich kann mich sehr glücklich schätzen, dass mein Mann so zu uns steht. Ich bin stolz auf meine Familie.«

 

Für Elifs Familie macht sich die Rezession stark bemerkbar

 

»Unsere finanzielle Situation hat sich sehr verändert, die Aufträge sind um fast 80 % zurückgegangen. Das wirkt sich leider auch auf Kayrals Therapien aus, da wir viele davon selbst finanzieren. Weil das Geld nicht reicht, bekommt er [obwohl einige Therapeuten durchaus arbeiten] seit vier Wochen keine Therapien mehr, was ich sehr schlimm finde.

 

Mich nervt am meisten, dass ich meinen Kindern nicht bieten kann, was ich möchte. Die haben keine Freiheit mehr, sind an zu Hause gebunden. Mit allen dreien zusammen kann ich nicht raus, kann allein nicht mit ihnen spazieren gehen. Ali läuft mir weg, Kayral muss ich schieben und ich kann ihn und Eliza nicht allein lassen, um hinterherzulaufen. Sonst sind die Kinder im Kindergarten und können sich austoben, sind ausgelastet – sie tun mir leid.«

 

Man traut es sich kaum zu fragen, aber: Wie schaltest du ab?

Das Bild zeigt Kayral mit klarem Blick
Foto: privat

 

»Gute Frage [sie lacht, überlegt]. Abends, wenn die Kinder im Bett sind, genieße ich die kurze Zeit mit meinem Mann auf der Couch. Ich habe mich früher abends oft mit meinen Freundinnen verabredet, sei es zum Essen oder fürs Kino, das fällt natürlich jetzt aus. Aber solange es meinen Kindern gut geht und wir als Familie glücklich sind, baut mich das immer wieder auf. Wenn ich Kayral sehe, wie er lacht, und wenn ich Ali und Eliza sehe, wenn sie glücklich sind, ist das für mich das Größte. Kayral ist mein Energiebündel und er gibt mir sehr viel Energie.«

Worauf freust du dich, sobald es irgendwann Anlass gibt, die Isolation aufzulösen?

 

»Ich freu mich, endlich mal meine Eltern, meinen Bruder und meinen Cousin wiederzusehen, darauf dass die Kinder wieder zusammen spielen können, dass ich auch mal in aller Ruhe alleine rausgehen kann. Ich hoffe, dass es bei der Arbeit meines Mannes wieder gut läuft und ich mir keine Sorgen machen muss, ob ich die Miete zahlen kann oder nicht. Ich freu mich eigentlich auf alles.

 

Meine größte Angst ist, dass es bis Ende des Jahres so weitergeht. Für Eliza finde ich es schade, sie ist eigentlich ein Maxi-Kind, sie soll im August zur Schule gehen, aber alle Veranstaltungen bis dahin fallen aus. Wir wollten den ersten Schultag feiern, es ist doch was Besonderes, man wird nur einmal im Leben eingeschult, und so vieles fällt aus. Wir wollten ihren Geburtstag groß feiern und mussten das ausfallen lassen. Ich hab einfach Angst, dass sich das den Kindern einprägt, dass sie das Spielen mit anderen Kindern verlernen, dass ihr Gemeinschaftssinn verloren geht. Dass Kayral seine Therapien nicht mehr weitermachen kann.

 

Ich hoffe zwar das Beste, aber es macht mir Angst, dass es noch lange so weitergehen wird. Menschen brauchen Menschen, ich brauche meine Familie, die mich aufbaut, meine Kinder brauchen ihre Großeltern, die Cousins und Cousinen.«

 

Hast du das Gefühl, dass euch jemand hängen lassen hat?

 

»Ich bin eine Person, die eh immer versucht, alles selber zu machen ... ich fühle mich nicht vernachlässigt oder hängengelassen. Ich hätte mir von der Krankenkasse gewünscht, dass sie sich meldet und uns über mögliche Leistungen aufklärt.

Hilfe von außen gab und gibt es nicht.

 

Wir sind allein gelassen. Kraft spenden wir uns gegenseitig. Ist einer schlecht drauf, muntert der andere ihn auf. Wenn ich traurig bin, kommt meine Tochter und umarmt mich, fragt mich, warum ich schlecht drauf bin, worüber ich nachdenke. Bei uns gibt es aber keine schlechte Laune. Im Gegenteil.

 

Vorletztes Wochenende waren wir spazieren Richtung Baggerloch, Ali hat Kayral die ganze Zeit geschoben und man konnte den Kleinen hinter dem Rolli nicht sehen. Jeder, der an uns vorbeigelaufen ist, hat gedacht, dass der Rolli allein fährt. Alle haben ganz irritiert geguckt und erst, als sie an uns vorbeigegangen sind, haben sie Ali gesehen und sehr gelacht, als er sie überraschend gegrüßt hat. Darüber haben wir uns noch den ganzen Nachmittag amüsiert.«

 

 

»Uns geht es verhältnismäßig gut.«

Emil in seinem Buggy, der ein Stück Freiheit für ihn und seine Familie bedeutet. (Foto: privat)
Emil in seinem Buggy, der ein Stück Freiheit für ihn und seine Familie bedeutet. (Foto: privat)

 

Imke und Paul sind seit knapp 10 Jahren verheiratet und Eltern von Emil (8)*. Die Familie bewohnt ein Einfamilienhaus mit Garten, das meiste ist hier auf Emils Bedürfnisse abgestimmt. Paul ist Ingenieur, Imke ist freiberuflich als Beraterin tätig und übernimmt die Care-Arbeit.

 

Emil ist ein ehemaliges Frühgeborenes, er kam in der 24. Schwangerschaftswoche zur Welt und hat unter der Behandlung eine schwere Hirnschädigung erlitten. Dadurch kam es zu einer Epilepsie, die zwar noch vorhanden ist, aber durch Medikamente hat er keine Anfälle. Emil kann nicht sprechen und nicht laufen, rutscht aber trotz seiner Hemiplegie auf dem Po durch die Gegend oder erkundet mit dem Rollstuhl die Welt und steckt alle mit seiner guten Laune an. Mit Pflegegrad 4 gehört er zu den Pflegebedürftigen mit schwersten Beeinträchtigungen der Selbständigkeit.

 

*Namen auf Wunsch der Familie geändert

Wie unterscheidet sich euer Alltag zu der Zeit vor Corona?

 

»Vor Corona ging Emil in eine Schule mit gebundenem Ganztag, er war also acht Stunden aus dem Haus, hat gelernt, Freunde getroffen, Spaß gehabt und soziale Interaktion mit vielen Menschen erlebt. Seit dem 12.03. ist er isoliert. In den ersten Tagen fühlte es sich noch wie Ferien an, ab der dritten Woche merkte man dann aber sehr deutlich, dass ihm die Gesellschaft anderer fehlte. Er wurde schnell quenglig, ließ sich zu nichts mehr animieren und jede Ablenkung hielt für gute drei Minuten. Das auszuhalten und mit ihm durchzustehen kostet enorm viel Kraft und Nerven, da man ihm nicht vermitteln kann, warum er seine Freunde nicht sehen darf, warum er nicht in die Schule gehen kann und weshalb auch Oma und Opa nur per Videotelefonie zu erreichen sind. Er ist mit der Gesamtsituation unzufrieden, es fehlen massiv Eindrücke und Anreize. Auch die physiotherapeutischen Einheiten sowie Logopädie und Ergotherapie ruhen bzw. werden so gut es geht durch uns aufgefangen, wir können aber die Profis nicht ersetzen. Da er momentan nicht so stark gefordert wird, schläft er abends statt um sieben erst um zehn Uhr ein, selbst wenn wir versuchen, ihn nachmittags auszupowern.

 

Emil ist scheuer geworden, reagiert auf Geräusche skeptischer als sonst und kann nicht mehr allein bleiben; konnte man zuvor zumindest noch allein auf die Toilette gehen, beginnt er oft sofort zu weinen, wenn man nicht mehr in Sichtweite ist, sucht einen dann und klammert extrem.

 

Der Tagesrhythmus orientiert sich wie zu Babyzeiten an Emil, ich schlafe, wenn er schläft. Morgens um fünf geht der Wecker, abends um zehn ist auch für mich dann Schicht im Schacht, anders ist das Pensum nicht zu bewältigen. Ich kaufe nur noch alle 14 Tage ein und komme mir dann immer wie ein Schwerverbrecher vor, wenn ich den Einkaufswagen vollgepackt durch die Gänge schiebe. An drei Tagen pro Woche ist mein Mann im Home-Office, aber genauso unerreichbar wie im Büro. Da es nun keine räumliche Trennung von Arbeit und Privatem mehr gibt, ist das Abschalten und Abstandfinden für ihn noch schwieriger geworden. Emil und ich bemühen uns, leise zu sein, wenn Paul arbeitet, aber erklär mal einem Achtjährigen, dessen größte Freude Krach und Musik sind, dass das jetzt gerade nicht geht. Das tut in der Seele weh und daher gehen wir so oft und lange wie möglich raus, wobei Emil sich aber nicht unbedingt austobt, aber immerhin die frische Luft genießt. 

 

Wenn es abends gut läuft, sehen wir uns noch einen Film oder eine Serie an. Vor Corona waren wir strikte Gegner von Netflix, Amazon Prime und YouTube Premium. Inzwischen ist uns die wenige Zeit zu zweit zu kostbar, daher gibt es nur noch maßgeschneidertes Programm statt stumpfem Zappen oder anspruchsvoller Lektüre.  

 

Emils Kuschelbedürfnis ist sonst nicht so groß, da er es auf viele Menschen verteilt. Wenn er dann mit seinen 19 Kilogramm wie ein kleines Baby auf den Arm will oder auf meinem oder Pauls Bauch liegen möchte, führt das schon mal schnell zu langen Armen oder Luftmangel. Aber es ist schön zu erleben, wie geborgen er sich fühlt und wie sehr er das genießt. Diese Momente entschädigen für alle Anstrengungen und wenn er dann lacht oder vor sich hinbrabbelt, ist man einfach nur froh, dass es ihm und einem selbst gut geht.«

 

In vielen Familien hat die Corona-Krise auch finanziell zugeschlagen, wie sieht das bei euch aus?

»Bisher hat sich das glücklicherweise kaum ausgewirkt. Die anstehende Kurzarbeit kompensiert mein Mann mit Überstunden. Bis September gilt der Betrieb als gesichert, das warten wir erstmal ab. Ich musste ein paar Aufträge zurückstellen. Glücklicherweise sind wir auf das Geld nicht für den Lebensunterhalt angewiesen. Dennoch bleibt ein mulmiges Gefühl.« 

 

Was entkräftet am meisten?

 

»Das ständige Fremdgetriggertwerden ist anstrengend und substanzraubend. Es bleibt nur wenig Zeit, eigene Interessen zu verfolgen und auch der Haushalt bleibt weitestgehend liegen, da Emil nicht allein sein will bzw. Unsinn anstellt, wenn er dabeibleiben darf. Meine Arbeit liegt seit März brach, da ich nicht mal eben für eine Stunde oder zwei in den Prozess einsteigen kann, ich brauche dazu Konzentration über vier, fünf Stunden en bloc, das kann ich nicht stückeln. Ich habe den Eindruck, völlig zu verblöden und bald wahnsinnig zu werden, wobei ich mir den Gedanken eigentlich verbiete, da immer das schlechte Gewissen mitschwingt, Emil damit nicht gerecht zu werden. Ich komme mir ein bisschen vor wie in »Und täglich grüßt das Murmeltier«; es gibt kein Wochenende mehr, die Tage gehen breiartig ineinander über.«

 

Was machst du zum Ausgleich?

 

»Ich gehe joggen und kann Emil dank seines speziellen Reha-Buggys mitnehmen, das genießen wir beide. Außerdem schaukelt er bei schönem Wetter gern, sodass ich in Ruhe kleineren Tätigkeiten nachgehen kann, solange ich in unmittelbarer Nähe bleibe.

 

Worauf freust du dich, sobald es irgendwann Anlass gibt, die Isolation aufzulösen?

 

»Dass Emil wieder glücklich und zufrieden nach Hause kommt, weil er seine Freunde gesehen und frischen Input bekommen hat. Diese 1:1-Situation ist zwar schön für die Eltern-Kind-Bindung, aber soziologisch ist das nicht auf lange Zeit vertretbar, egal wie sehr sich alle bemühen.

 

Außerdem freuen wir uns sehr auf das Wiedersehen mit den Großeltern, um die wir uns aktuell auch Sorgen machen. Emil ist sehr gern bei ihnen und sie begleiten ihn sonst auch immer zum Reiten. Das sind Ankerpunkte, die plötzlich für alle weggerissen wurden.«

 

Deine größte Angst aktuell?

 

»Emil gehört zur Risikogruppe, da seine Lungenfunktion geringer ist als bei anderen Kindern in seinem Alter; er ist infektanfälliger und braucht auch länger zur Erholung. Durch die Medikamente neigt er zu Blutgerinnungsstörungen. Eine Infektion mit Covid-19 wäre für ihn vermutlich sehr gefährlich, daher schützen wir ihn so gut es geht. Angst habe ich aber auch, dass mein Mann und/oder ich mich infizieren und außer Gefecht sind. Das würde Emil am allerwenigsten verstehen und es würde ihn sehr belasten.

 

Meine Hoffnung ruht auf Schwarmintelligenz. Dass sich möglichst wenig Menschen neu infizieren und alle sich an die Hygienevorschriften halten, damit die Infektionsgefahr so gering wie möglich wird. Ein frommer Wunsch.«

 

Wer hat euch hängen lassen?

 

»Niemand. Wir wurden von der Schule gut mit Infos und Material versorgt, auch von den Therapeutinnen gab es Anleitung, wie wir die Therapie fortsetzen können. Generell fehlt aber das gesamte Umfeld, welches uns als Eltern stundenweise von Pflichten ablöst und Emil fordert und fördert.

 

Wir sind gut vernetzt mit anderen Eltern behinderter Kinder. Zuhören und reden können, merken, dass man nicht allein ist, Erlebtes teilen, spendet Trost. Wir reflektieren als Paar aber auch täglich unsere Situation und vergegenwärtigen uns umso häufiger, dass wir es verhältnismäßig gut haben.« 

 

Was war das schönste Erlebnis der letzten Wochen?

 

»Emil liebt es zu reiten. Als seine Reitlehrerin anrief und verkündete, dass die Reittherapie wieder losgeht, hatte ich Freudentränen in den Augen. Als Emil dann nach fünf Wochen das erste Mal wieder auf dem Pferd saß, hat er gejubelt und gelacht. Dann hat er das Pferd umarmt und sein Gesicht im Fell gerieben. Das wohlige Seufzen war über den halben Reitplatz zu hören.«

 

 

 

»Ich hänge in der Luft.«

Robin auf einem Therapierad des Kinderhospizes; sein eigenes ist mittlerweile zu klein. (Foto: privat)
Robin auf einem Therapierad des Kinderhospizes; sein eigenes ist mittlerweile zu klein. (Foto: privat)

Bianca lebt seit fast fünf Jahren getrennt von ihrem Mann, mit dem sie die Söhne Maxi (17) und Robin (15) hat. Robin hat eine seltene Stoffwechselerkrankung, die nichtketotische Hyperglyzinämie.  In Deutschland gibt es ca. 20 Kinder mit dieser Erkrankung, 250 sind es weltweit. Seine Entwicklung ist für diese Krankheit relativ gut. Zu Robins Krankheitsbild gehört eine starke Epilepsie, seit zwei Jahren ist er unter Medikamenten glücklicherweise anfallsfrei, nachdem er zuletzt wegen eines Status epilepticus mit dem Notarzt in die Klinik musste. Robin ist in mehrerlei Hinsicht beeinträchtigt, sieht schlecht und hat Pflegegrad 5, kann aber ein paar Schritte laufen. Dennoch ist er alles andere als selbständig, gezieltes Greifen ist ihm möglich, er kann aufrecht sitzen, muss aber immer zu 100 % beaufsichtigt werden, da er ein geringes Schmerzempfinden hat und das Verletzungsrisiko aufgrund seiner motorischen Unruhe groß ist.

 

Bianca, Maxi und Robin bewohnen ein Einfamilienhaus. Maxi lebt im Wechselmodell, wöchentlich zwischen Mama und Papa, Robin ist jedes zweite Wochenende bei Papa und in den Ferien abwechselnd ganze Wochen. Bianca ist auf Minijob-Basis bei einer Versicherung beschäftigt, ihr [Noch-]Mann ist IT-Manager bei einer Firma in Essen. Momentan ist sie wegen Robins Pflege freigestellt, ihr Mann ist auch in Kurzarbeit, daher gibt es ein paar finanzielle Einbußen zu verkraften.

 

Wie unterscheidet sich euer Alltag zu der Zeit vor Corona?

 

»Wir sind seit zwei Monaten komplett isoliert, wir bekommen unsere Einkäufe gebracht und gehen zum Spazieren nur noch raus, wenn es draußen eher leer ist. Es gibt keine Therapien mehr für Robin, der familienunterstützende Dienst kommt und der ambulante Kinderhospizdienst kommen nicht mehr, Arzttermine und Hospizaufenthalte wurden abgesagt. Ich bin momentan allein mit Robin zu Hause, die Aufenthalte bei meinem Mann haben wir komplett aufgehoben, da seine Lebensgefährtin bei einem Kinderarzt arbeitet und das Ansteckungsrisiko hier erhöht ist.

 

Man verbringt mehr Zeit mit seinen Kindern, aber es zehrt sehr an den Nerven.

 

 

Robin schläft momentan viel und nutzt die freie Zeit, um zu chillen, dreht aber nachmittags auf, weil er vormittags nicht mehr ausgelastet ist. Er schläft dadurch nachts schlecht, der normale Alltagsrhythmus ist halt ein anderer.«

 

Welche Auswirkungen hat die Isolation auf euer Familienleben?

 

»Der Große ist sehr genervt, gereizt, steht ein bisschen mehr unter Strom als sonst, da er nicht rauskommt. Er ist genervt von den Aufgaben, die er zu erledigen hat, genervt von der Schule, das Geregelte ist nicht mehr da und dementsprechend gibt es zwischen ihm und mir gewisse Spannungen. Ich bin auch gereizt, weil ich nur noch zu Hause bin, nicht mehr stundenweise rauskomme. Ab und zu haben wir zwar Besuch, aber auf Abstand, aber mit dem Alltag ist es nicht vergleichbar.«

 

[Bianca hat einen Tisch im Vorgarten stehen, an dem Besuch Platz nimmt, sie selbst sitzt mit großem Abstand auf der Treppe, man unterhält sich auf Distanz.]

 

Wie hat sich deine finanzielle Situation verändert?

 

»Ich bekomme ALG II aufgestockt, aber mir fehlt dennoch einiges. Es ist viel Papierkram zu erledigen, auch mit meinem Mann. Die Unterhaltsbezüge werden geringer und müssen neu berechnet werden, was bei uns über einen Anwalt läuft. Man hat sehr viel Papierkram, viel zu telefonieren, viel zu erledigen. Es dauert alles, man muss abwarten, gewisse Sachen mehrmals schicken, bis es irgendwann erledigt ist.« 

 

Du hast gesagt, dass du gereizt bist, genervt – was ist für dich das schlimmste an der Situation?

 

»Was mich am meisten nervt ist, dass ich immer eine Person war, die viel unterwegs war, sich viel um andere gekümmert hat – ich kann jetzt nicht zu meiner Mutter, kann für sie und meine Tante nicht einkaufen, kann keinen unterstützen und bin selber auf Unterstützung angewiesen. Ich hänge selber in der Luft. Was ich für andere immer getan habe, kann ich nicht mehr erbringen, um mein Kind zu schützen. Mein Papa ist alleine, meine Mama ist alleine, beide müssen jetzt allein klarkommen. Man telefoniert zwar, aber das tut schon sehr weh und nervt nicht nur, sondern zehrt wirklich an der Substanz.«

 

Die Belastung, die sich sonst stundenweise auf mehreren Schultern verteilt, lastet nun seit Wochen voll und ganz auf Biancas ohnehin schmalen Schultern. Um den Akku wieder aufzuladen, Resilienz aufzubauen, müssten Auszeiten her. Wie bewerkstelligt man das?

 

»Abschalten ist selten. Aber, wenn der Alltag am Ende ist, man hat sich um Sachen gekümmert und der Kleine ist im Bett, höre ich Musik, leg mich in die Badewanne, komme ein bisschen runter. Mit dem Großen gucke ich eventuell noch einen Film in aller Ruhe, um ein bisschen Kraft zu tanken.«

 

Worauf freust du dich, sobald es irgendwann Anlass gibt, die Isolation aufzulösen?

 

»Ich freue mich, endlich wieder mit Freunden zusammenzusitzen, sie in den Arm zu nehmen und zu drücken. Mir fehlt echt, meine Mama wieder zu drücken, zu umarmen, meinen Papa. Maxi wird im Juli 18, ich hoffe es klappt, eine megagroße Party zu feiern. Ich selbst hatte im April Geburtstag, wir hatten ein paar Stühle in großem Abstand aufgestellt und mit Sekt ›angestoßen‹ und dann schnell wieder alles aufgelöst …  es ist für den Großen eine Super-scheiß-Situation, wenn das jetzt nicht klappt. Aber wenn Robin sich ansteckt, ist das lebensbedrohlich. Er hatte als Baby schon viele Lungenentzündungen und war oft im Krankenhaus. Die Medikamente können dann nicht richtig gegeben werden und nicht richtig wirken, wenn sie nicht richtig mit dem Essen aufnimmt. Das Risiko, dass der Glyzinwert wieder steigt ist groß, das Gehirn kann dadurch angegriffen werden, er kann epileptische Anfälle bekommen. Wir isolieren uns wegen dieser Gefahr so gut es geht.«

 

Auch für Eltern, für die Krankenhäuser, medizinische Fachbegriffe und Hiobsbotschaften auf der Tagesordnung stehen, ist Covid-19 furchteinflößend

 

Biancas größte Angst ist es, dass Robin sich anstecken könnte und auf die Intensivstation muss. Ihre Hoffnung ruht daher darauf, dass »sich alles beruhigt, Robin wieder in die Schule und ich wieder arbeiten kann, obwohl ich bezweifle, dass ich wieder zurück in den Job kommen könnte/werde, da das jetzt ja vermutlich echt lange dauert. Ich hoffe, dass bald wieder Unterstützung da ist und dass man wieder ohne Angst und Bedenken rausgehen kann. Dass es so schnell wie möglich einen Impfstoff gibt hoffe ich auch, auch wenn es nur für Robin ist und sein Risiko gedämmt wird.«

 

Freunde und ehrenamtliche Helfer sind Lichtgestalten

Bianca und Robin (Foto: privat)
Bianca und Robin (Foto: privat)

Der ambulante Hospizdienst kann zwar niemanden senden, um Robin zu betreuen, damit Bianca verschnaufen kann, aber ein Helfer hat mit ihr den Garten auf Vordermann gebracht, während Robin isoliert im Haus bleiben konnte.

»Das hat mir sehr geholfen, da mir der Garten sonst über den Kopf gewachsen wäre. Eine sehr gute Freundin, die im Einzelhandel tätig ist, geht für mich einkaufen und bringt mir die Sachen, die ich benötige. Sie unterstützt mich sehr. Freunde geben mir Kraft, Gespräche, der Austausch, die ›Besuche‹ – dass man trotz des Abstands Kontakt hat. Das Skypen mit den Freunden ist schon was Besonderes … Abends die Spaziergänge am Kanal mit Robin und Maxi sind schön, wenn die Sonne noch scheint, diese Momente genieße ich.

 

Mein Geburtstag war besonders schön; Freunde haben mich mit Kuchen überrascht und ein Freund hat versucht, mir mit seiner Drohne eine Geburtstagskarte zuzustellen. Die Karte hat sich aber leider über dem Haus von der Drohne verabschiedet und ist auf dem Dach gelandet. Ein anderer Freund hat dann die wunderschöne Karte vom Dach gerettet. «

 

 

 

Was zum Teil widersprüchlich klingt, ist nichts anderes als Pragmatismus

 

Diese Familien sind es gewohnt, dass von einem auf den anderen Tag ihre Welt aus den Angeln gehoben wird. Jammern will keiner von ihnen, die Zeit ist dazu zu schade und es würde ohnehin nichts ändern. So genießen sie lieber jeden Tag, an dem kleinere und größere Katastrophen ausbleiben, und machen das Beste daraus.

 

Wie das aussieht, hat Bianca kürzlich auch Westpol gezeigt, als sie sich für einen Tag begleiten ließ. Zum Video.

 

 

Wie kann den Familien geholfen werden?

 

Zum einen, indem über sie und ihre Situation gesprochen wird. Die Entscheidungsträger müssen darauf aufmerksam gemacht werden, dass Schule für diese Kinder nicht nur Unterricht ist, sondern oft auch eine der wenigen Möglichkeiten, adäquat gefördert und gefordert zu werden. Sei es nun an der Regel- oder Förderschule. 

 

Zum anderen fehlt es nicht nur an Therapien und Hands-on-Unterstützung [wer hier helfen mag, kann sich gern über das Kontaktformular melden, ich gebe das an die Familien weiter], sondern auch ganz banal an Geld. 

 

Robin benötigt ein neues Therapiefahrrad mit E-Antrieb, welches leider nicht von der Krankenkasse übernommen wird. Wer mit einer Spende dazu beitragen möchte, kann dies über den Verein Mobil mit Behinderung e.V. tun. Konto: DE27 5486 2500 0207 80, Verwendungszweck: Robin Maurice

 

Kayrals Eltern haben einen PayPal-Pool eingerichtet, über den Spenden direkt seiner Therapie zugute kommen.

 

Emils Familie unterstützt den Verein Frühstarter Datteln e.V.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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